Die Kunst, seinen Platz zu finden

05. 09. 2018

Text des Vortrags auf der Pflegefachtagung 2018 zu Gullivers Reisen – oder die Kunst, seinen Platz zu finden von Brigitte Ilhan, LWL-Klinik Herten

Einleitung:

Als ich nach dem Titel meines Vortrags suchte, wollte ich etwas finden, was neugierig macht und Interesse weckt. Im Gespr.ch darüber mit einer Freundin kamen wir auf Gullivers Reisen. Und, um den Bogen zu meinem eigentlichen Thema zu schlagen, gehe ich kurz und sehr zusammengefasst darauf ein:

Zusammenfassung:

Gulliver gerät auf seinen Schiffsreisen immer wieder in Ausnahmesituationen, z. B. in einen heftigen Sturm oder einen Piratenüberfall, kann sich gerade noch so retten (manchmal auch mit unerwarteter Hilfe) und findet sich in einer Umgebung wieder, wo er auffällt, weil er ganz anders ist als alle anderen. So wirkt er auf Liliput wie ein Riese, so, dass alle Angst vor ihm haben und er an Händen, Füßen und Haaren gefesselt und am Boden fixiert wird. Als er eine Hand fast befreien kann, wird er sofort mit Pfeilen beschossen, sodass er wieder still h.lt.

Auf der Insel der Riesen ist er der vermeintliche Zwerg, wird auf einem Feld bei Feldarbeiten fast übersehen und getötet und kann sich nur durch lautes Schreien retten. Er findet Zuflucht bei einer Bauernfamilie, deren Tochter sich seiner annimmt und sich rührend um ihn kümmert, sodass er sich zurechtfinden kann und für neue Herausforderungen, die noch auf ihn zukommen, gestärkt ist. Auch hier – wie in .hnlichen Situationen – beobachtet er genau, was um ihn herum passiert. Er setzt sich auseinander, mit sich selbst und im Kontakt mit anderen. Dadurch findet er L.sungen für sich und mitunter auch für andere mit und kann sich aus manch schwieriger Lage befreien.

Letztendlich wird er jedes Mal von einem Schiff aufgenommen und kann so in die Heimat zurück gelangen.

Entsprechungen oben genannter Beispiele zu meiner Arbeit mit Patienten*innen:

Der heftige Sturm auf dem Meer oder der Piratenüberfall kommen einer Lebenskrise gleich, einem Trauma oder einer Verlusterfahrung durch Trennung oder Tod.

Die Fixierung an Händen, Beinen und Haaren lie. mich an so manche Fixierungssituation denken, vor der eine Patientin/ein Patient bedrohlich und verbal nicht erreichbar wirkte und anderen Angst machte, was sich in der Regel dann später positiv veränderte.

Die Zuwendung der Tochter der Bauernfamilie kann stehen für Hilfe und Unterstützung durch einen Klinikaufenthalt, eine Therapie und Zuwendung und Ermutigung durch eine bestimmte Bezugsperson.

Von einem Schiff aufgenommen zu werden und wieder in die Heimat zurückzugelangen kann hierbei bedeuten, nach einer Krise mit darauffolgender Erkrankung, Klinikaufenthalt und anstrengender Therapie wieder im Alltag und bei sich selbst anzukommen. Und zwar nicht im Sinne von „Funktionieren“ , sondern wirklich sich selbst zu leben. Zwar mit der Vulnerabilität und oft der Angst vor erneuter Erkrankung, aber vor allem mit den Stärken, die jeder Mensch hat, mit seinen Zielen, Wünschen und Träumen.

Wie kann das erreicht werden?

Es ist ja immer so, dass einem Klinikaufenthalt eine Krise bzw. eine Ausnahmesituation voraus geht, hinter der oft eine lange schwierige Geschichte steht, oder ein Trauma. Auch kommt es h.ufig vor, dass Patienten*innen sich seltsam verhalten (vielleicht im Vorfeld schon auffällig wirkten), skurrile Gedankeng.nge haben, unangemessen reagieren, bedrohlich oder sehr abweisend wirken etc. Im Laufe meiner Berufsjahre ist mir immer wieder aufgefallen, dass der Fokus meistens auf eben diesen Auffälligkeiten, diesen Symptomen liegt, was ja zunächst richtig und wichtig ist. Wenn jedoch der Fokus einzig und allein darauf liegen bleibt, wird die Patientin / der Patient nicht mehr in seiner Gesamtheit als interessanter Mensch mit Stärken und besonderen Fähigkeiten wahrgenommen. Dabei gibt es so viele Patienten*innen, die besondere Fähigkeiten, z. B. in künstlerischen Bereichen haben, oder sie haben super interessante Dinge erlebt in ihrer Lebensgeschichte oder haben au.ergew.hnliche soziale Kompetenzen…

Wer sich auf Schwächen konzentriert, verliert die Stärken aus dem Blick.

Eine Situation aus einer Dienstübergabe vor vielen Jahren ist mir noch deutlich in Erinnerung: Eine ganz junge Frau war seit einigen wenigen Tagen zum ersten Mal station.r – sehr lebhaft, laut, sehr „verrückt“. Sie erzählte immer wieder von ihren Plänen, ein Berufskolleg zu besuchen und eine Ausbildung zu machen. Ich kann mich nicht mehr an den Bereich erinnern, in den sie wollte. Ich kann mich aber genau an ihre Begeisterung erinnern. Ihre Pl.ne kamen im Team zur Sprache, und sofort hörte man Sätze wie „Nee … lieber nicht“ oder „Wie soll sie das schaffen, sie ist zu krank …“, obwohl keiner sie anders kannte als lediglich von diesen wenigen Tagen in dieser Ausnahmesituation.

Hinzu kamen skeptische, abwertende Gesten wie Kopfschütteln, Stirnrunzeln und Abwinken. Mir rutschte ein sehr emotionales, verständnisloses, vorwurfsvolles „WARUM DENN NICHT?!“ heraus, worauf unser damaliger, von mir sehr geschätzter Sozialarbeiter, sofort ganz leidenschaftlich darauf reagierte und fragte, ob ich auch oft das Gefühl habe, dass sehr schnell mit Skepsis und Abwehr reagiert werde. Dass Patienten*innen sehr wenig zugetraut werde, wenn es um solche Fragen gehe, dass sie zu sehr nur aus der Perspektive ihrer Erkrankung angeschaut werden…. Ich fühlte mich sehr bestätigt in meiner Wahrnehmung, was mir, zugegeben, gut tat.
Ich weiß nicht, was aus der jungen Frau geworden ist. Ich habe sie nie wieder gesehen, was mich glauben lässt, dass sie ihre Pl.ne verfolgt und ihren Platz im Leben gefunden hat.

Wie gesagt, ähnliche Situationen konnte ich sehr oft wahrnehmen, sie wirkten störend und falsch auf mich, ohne dass ich mich richtig darum kümmern konnte. Sie rückten immer wieder schnell in den Hintergrund, da ich zu der Zeit eine Teilzeitstelle hatte und mich als alleinerziehende Mama von zwei lebhaften, ganz tollen, mich aber sehr fordernden Söhnen um mich selbst und meinen Alltag kümmern musste …

Bis ich nach langer Wartezeit und mehreren Versuchen von der Intensivstation, was die Station inzwischen geworden war, auf eine offen geführte therapeutische Station wechseln konnte, wo ich bis heute bin und bis zur Rente bleiben möchte. Beruflich habe ich hier meinen Platz gefunden – ich kann jetzt wieder mehr als in Teilzeit arbeiten, und auf der Kognitionsstation geht es nicht immer nur um Krisen- und Akutsituationen, sondern mehr um Beziehungsaufbau, Möglichkeiten auf dem Genesungsweg, Perspektiven finden, Eigenverantwortung fördern usw.

Hinzu kommen mehrere interessante Fortbildungen, die kurz vor dem Wechsel zur Kognitionsstation begannen, wie die „Kalifornische Massage“, oder nach dem Wechsel „Leiten von Gruppen“, „Aromatherapie“ und, last but not least, die „Adherence-Therapie“. Eine Fortbildung, die mich nicht so sehr interessierte und zu der ich mehr oder weniger von meinem damaligen Stationsleiter überredet wurde, bis ich mich letztendlich anmeldete, worüber ich heute sehr froh bin. Denn sehr schnell erfuhr ich, wie sinnvoll diese Arbeit ist, wie hilfreich und nachhaltig sie sein kann. Und wie viel Freude sie macht!

Adherence-Therapie … Was ist das?

Herr Braamt, Pflegedirektor der LWL-Klinik Herten, fragte mich bei einem Besuch auf unserer Station einmal „Sagen Sie, Frau Ilhan, wie erkl.ren Sie einem/einer Patienten/-in denn die Adherence-Therapie?“, wobei er den Begriff zwei-, dreimal so betonte, als wollte er sagen „Wie kann man etwas mit so einem komischen Namen erkl.ren?“. So richtig gut konnte ich das in dem Moment auch nicht. Selbst auf dem Adherence-Kongress, den ich Ende letzten Jahres besuchte, wurde darüber nachgedacht. Die meisten dort anwesenden Adherence-Therapeuten fanden den Begriff doof (der Ausdruck fiel wirklich mehrfach), aber keiner hatte eine bessere Idee.

Ich habe einen ganz guten Weg gefunden – ich erkläre zunächst, dass diese Therapie aus England kommt, deshalb dieser Name, der so viel wie „Dranbleiben, Anhaften“ bedeutet. Meist komme ich darauf zu sprechen, wenn ich eine Pflegeplanung mit jemandem erstelle, dann kann ich das Manual im PC aufrufen und direkt zeigen, was es ist. Ich nenne es immer „eine Einzelarbeit, die sich sehr individuell gestaltet und die sich aus mehreren Interventionen zusammensetzt, als Leitfaden in dem Manual“. Auch wenn mich jemand unabhängig des Pflegeplanungsgesprächs fragt, was Adherence ist, nehme ich mir die Zeit und zeige es im PC, das ist dann einfacher zu erklären.

Ich betone immer, dass es eine freiwillige Arbeit ist, dass der Klient selbst Regie führt und selbst bestimmt, was er bearbeiten möchte und was nicht, und auch dass er jederzeit wieder aufhüren darf.

Meine Rolle als Adherence-Therapeutin ist die der Co-Pilotin des Klienten. Bei dieser Arbeit geht es im Wesentlichen um:

  • Beziehungsaufbau, der meist vorher schon begonnen hat. Bei aller notwendigen Distanz muss „die Chemie stimmen“, gegenseitiges Vertrauen da sein.
  • Empathie als Grundhaltung
  • Akzeptanz, das bedeutet, zusammen zu schauen, was gerade ist und es anzunehmen
  • Aktives Zuhören und offene Fragen
  • Prozessfähigkeit. Bedeutet, mit dem Prozess mitzugehen (nichts forcieren, beschleunigen, verändern zu wollen). Jeder Prozess, der in der AD-Therapie entsteht, oder auch in einer anderen Therapie, ist einzigartig und braucht immer etwas anderes, z. B. Geduld, Durchhaltevermögen … Einfach mitgehen.

„Reden über Probleme schafft Probleme. Reden über Lösungen schafft Lösungen.“

Dieser Satz, der im Zusammenhang mit LFT – stehend für l.sungsfokussierte Therapie – auf dem Adherence-Kongress fiel, ist mir sehr wichtig. In allererster Linie geht es mir bei meiner Arbeit darum meinem Gegenüber zu helfen, Lösungen zu finden. Es geht mir darum, zu bestärken, zu ermutigen, immer wieder den Fokus auf positive Aspekte zu richten, bei einem Perspektivwechsel zu unterstützen.

Dadurch haben sich in meinem Fall Prozesse ergeben, die nicht abzusehen waren und die mich mit der Zeit vom Ablauf her ganz anders arbeiten lie.en, als ich es in der Fortbildung gelernt hatte. Da beide Fortbildungen – erst Adherence dann Recovery – kurz aufeinander folgten, gehören sie für mich gefühlt zusammen, obwohl sie ursprünglich aus verschiedenen Ländern kommen.

Für mich persönlich ist AD-Therapie ein super Handwerkszeug, die Grundlage für einen freien, individuellen Prozess.

Womit für mich hier der Übergang zu Recovery ist:

Viele der Prozesse, die in der Adherence-Therapie starten, sind sehr unterschiedlich und münden darin, was ich unter Recovery verstehe – nämlich:

In einem ganz eigenen, individuellen Genesungsweg, der sich ganz unterschiedlich gestaltet, der lang oder kurz sein kann, auf dem Symptome wieder auftreten können oder auch ein weiterer

Klinikaufenthalt erfolgen kann, der auch ohne professionelle Intervention erfolgen kann, der aber immer Menschen braucht, die an den Betroffenen glauben.

Adherence beginnt bei mir meistens nach der Entlassung der Patientin/des Patienten aus der Klinik oder kurz davor, mit der Intervention „Assessment“, anders ist es im stationären Rahmen nicht zu schaffen.

Ich gebe zur Veranschaulichung ein Beispiel: Vor mehr als zwei Jahren habe ich mit einer Patientin AD-Therapie begonnen, und statt der angedachten acht Sitzungen hatte sie zwölf, weil es vorher so gar nicht rund war. In der Zeit war ein Thema immer wieder ein Ehrenamt oder ein Minijob, um wieder mehr nach au.en zu gehen, eine Aufgabe zu finden und damit auch Anerkennung von außen zu bekommen. Diese Frau hatte schon so viel geschafft nach schwerer Erkrankung, vielen Klinikaufenthalten und vielen unterschiedlichen Therapien, konnte dies jedoch nur langsam und schwer annehmen, und ein Minijob oder Ehrenamt war ein NO-GO für sie!

Ich musste schon lachen, wenn ich es vorsichtig immer wieder ansprach, konnte sie jedoch auch in ihrer Abwehr lassen. Irgendwann war die AD-Therapie zu Ende, sie kam aber noch alle paar Wochen für eine Stunde auf die Station, wenn ich am Wochenende Dienst hatte.

So ging das mehrere Wochen bis Monate, bis sie mich einmal bat, sie bei einem Beratungsgespr.ch zu unterstützen, was sie vereinbart hatte bei einer Zentralstelle für Ehren.mter im Kreis RE. Ich begleitete sie dorthin, machte sonst nichts, war nur da, und sie bekam eine M.glichkeit zu einem Probetag, der v.llig schlimm war. Das lag jedoch nicht an ihr, sondern an der Anleitung seitens der Institution.

Natürlich war es erst mal entmutigend für sie, wobei ihr von mir und von den Teilnehmenden der ambulanten Gruppe unserer Station, an der sie zu der Zeit auch teilnahm, immer wieder gespiegelt wurde, dass es gar nicht an ihr lag, sondern an der Art und Weise, wie sie dort eingeführt wurde.

Sie war skeptisch, muss es irgendwie jedoch angenommen haben, da sie ganz von sich aus bei einer anderen Stelle anrief und sich für ein Ehrenamt vorstellen durfte. Ich fand das sehr beeindruckend und sehe einen sehr positiven Verlauf bei ihr. Ich war so überrascht, dass sie dort anrief – ohne vorher mit mir darüber zu sprechen, das fand ich so toll. Ich habe mich richtig gefreut. Ihr Mut w.chst, ihre Zuversicht, ihr Selbstvertrauen, alles…ihre Seele wächst. Wenn das einmal so ins Rollen gekommen ist (auch wenn es Jahre dauert), dann ist da noch ganz viel Potential. Das verstehe ich unter Recovery – meinetwegen soll sie noch ein paarmal am Wochenende zur Station kommen, wenn es ihr hilft. Ich freue mich dann sogar richtig. Denn bei aller Professionalität, die ja sehr wichtig ist, liegen mir alle Menschen, mit denen ich so oder ähnlich arbeite, am Herzen, und ich mag sie und freue mich mit ihnen, wenn es irgendwann rund läuft, egal wie lange es dauert … (übrigens macht die Psychologin unserer Station, zu der diese ehemalige Patientin sehr viel Vertrauen hat und sich richtig gut verstanden fühlt, dasselbe: auch nach der Entlassung nimmt unsere Psychologin trotz ihrer Arbeitsdichte sich Zeit und empfängt alle paar Wochen besagte ehemalige Patientin zu einem Gespr.ch, weil sie es zielführend findet und das Gefühl hat, die

Patientin profitiert davon und agiert nicht damit. Diese von mir sehr geschätzte Psychologin macht auch Recovery – ohne es zu wissen. Bei dieser ehemaligen Patientin ist es allemal angesagt und gewinnbringend).

In einer unserer Sitzungen ging es um Respekt, darum, gemocht und geachtet zu werden. Folgendes hat die Patientin herausgearbeitet, was dafür wichtig ist:

• Ehrlich zu sich selbst zu sein

• Ins kalte Wasser zu springen, d. h. Dinge zu tun, die mir Angst machen bzw. die ich nicht kenne.

• Innerlich unabhängig, selbstständig zu sein: d. h. das Urteil anderer spielt keine Rolle, sondern meine Haltung zu mir selbst: Selbstannahme, Selbstrespekt, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl

• Selbstreflexion: innere Arbeit, die Auseinandersetzung mit sich selbst

Sie ist dabei, all das zu erreichen, und aus den anfangs kleinen werden größere Schritte.

Bei der Vorbereitung dieses Vortrags bin ich auf folgende Frage gestoßen:

„Ist ein defizitorientiertes Diagnosesystem vereinbar mit der Idee der Adherence-Therapie und Recovery?“ Nein.

Zum Schluss noch einmal die Kernsätze:

„Wer sich auf Schwächen konzentriert, verliert die Stärken aus dem Blick.“

„Reden über Probleme schafft Probleme, Reden über Lösungen schafft Lösungen.“

Vortragstext der Pflegefachtagung 2018

Brigitte Ilhan
Gesundheits- und Krankenpflegerin der LWL-Klinik Herten, Station A 5
Adherence-Therapeutin
ausgebildet in Kalifornischer Massage, Reiki und anderen energetischen Heilweisen
brigitte.ilhan@lwl.org

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